Wer heilt hat recht
Westliche Medizin und traditionelle Heiler in Afrika
Wer krank wird in Afrika, hat die Wahl zwischen westlich orientierter Schulmedizin und traditionellen Heilern. Die beiden Systeme haben sehr unterschiedliche Auffassungen von den Ursachen der Krankheiten und ihrer Behandlung. Führt die Therapie zum Erfolg, ist dem Kranken die Diagnose letzlich egal.
So kann das nicht weitergehen. Wieder einmal quälen wir uns mit
unserem Geländewagen über eine zerfurchte Erdpiste, aber heute scheinen
die Stoßdämpfer nicht am Chassis sondern irgendwo in Tanjas Oberbauch
befestigt zu sein. Jedes Schlagloch lässt sie vor Schmerzen stöhnen.
Schon am Vorabend hatten die Beschwerden begonnen. Eine vorangegangene
Behandlung mit Schmerzmitteln wegen eines verstauchten Fußes hatte an
ein Magengeschwür denken lassen, aber eine entsprechende selbst
durchgeführte Therapie war ohne Effekt geblieben. So kann das nicht
weitergehen - wir müssen herausfinden was dahinter steckt.
Wir haben Glück: Wir sind unterwegs in Kamerun, im Norden der Provinz
Northwest, einer recht abgelegenen Gegend zwar, aber ganz in der Nähe
liegt die Bezirkshauptstadt Kumbo. Und dort gibt es das St. Elisabeth
Catholic General Hospital Shisong, angeblich eines der besten
Krankenhäuser des Landes.
Dr. Jules ist der Frauenarzt der Klinik, ein breitschultriger Mann mit
einem ernsten, fast schwarzen Gesicht. Er redet nicht viel, und auch die
Untersuchung ist eher knapp gehalten. „Verdacht auf Gastritis“ schreibt
er auf seinen Untersuchungsbogen und beginnt damit, den Therapieplan für
die Station auszufüllen. Stationäre Aufnahme? Auf der
Entbindungsstation? Wir hatten doch nur ein paar Untersuchungen
durchführen lassen und uns dann, mit ein paar Medikamenten versorgt,
wieder auf den Weg machen wollen. Und schwanger ist Tanja übrigens auch
nicht!
Vielleicht hätten wir uns doch besser an Dr. Ngog wenden sollen. Dr.
Nyingnying Elvis Ngog gilt als Kapazität und ist im ganzen Land bekannt.
In dem kleinen Bergdorf Oku, gerade mal zwanzig Kilometer von hier und
mit einem geländegängigen Fahrzeug bei trockenem Wetter in einer guten
Stunde zu erreichen, betreibt er seine Praxis. Studiert hat Dr. Ngog
zwar nicht, und möglicherweise kann er nicht einmal lesen und schreiben,
aber das braucht er auch nicht: „Die Ahnen haben mich zum Heiler
berufen“, sagt er, „und die Ahnen sind es, die mir im Traum das Rezept
geben, mit dem ich meine Patienten heilen kann.“ Ngog ist ein kleiner,
eher schmächtiger Mann, und wie er so auf seinem Schemel hinter dem
heiligen Feuer hockt und mit den Beinen zappelt, hat er gar nicht die
Ausstrahlung, die man bei so einem berühmten Heiler vermuten würde. Aber
es ist ja auch nicht die Selbstdarstellung, um die es ihm geht. Nicht
das Interview ist sein Metier, nicht die Kommunikation mit dem
Diesseits. Der Kontakt mit dem Jenseits ist sein Fach, und seine Augen
beginnen zu leuchten, als er aufspringt und uns sein Sprecherzimmer
zeigt. Er steigt über Behälter mit wundersamen Tinkturen, zeigt auf
Fetische an den rußgeschwärzten Wänden, und erzählt von zeremoniellen
Waschungen auf einem Ameisenhaufen, davon, wie er mit Schnitten in den
Körper Gift ausleiten kann, wann die Opferung eines Huhns angezeigt ist,
und wie man aus den Kräutern des Waldes Arzneimittel herstellt. „Jede
Behandlung ist individuell“, erklärt er, „kein zweiter Heiler benutzt
dieselben Rezepte.“
Aber jetzt sind wir ja hier in einem katholischen Missionskrankenhaus,
und hier gibt es niemanden, der mal eben ein paar Kaurimuscheln auf die
Erde wirft und aus dem entstehenden Muster eine Diagnose stellt. Dafür
gibt es ein Röntgen- und ein Ultraschallgerät und ein Labor, und es
gelingt uns, Dr. Jules, den Leiter der Entbindungsstation, zu
überzeugen, doch zunächst von einer stationären Aufnahme abzusehen und
Überweisungen für die weitere Diagnostik und ein Rezept für die
Krankenhausapotheke auszustellen.
Überall in der Klinik drängen sich Menschen. Kranke balancieren
Infusionsbeutel auf dem Kopf, Angehörige schleppen Schaumstoffmatratzen
in die Krankenzimmer, um sich dort auf dem Boden ihr Nachtlager
einzurichten, Berge von mitgebrachten Blech- und Plastikschüsseln werden
in der Kantine mit Reis und Kassava, Bohnen und Trockenfisch beladen und
in die Schlafsäle gebracht, in bunte Tücher gehüllte Frauen waschen
Wäsche im Hof und legen sie auf dem Boden zum Trocknen aus, und auf den
Gängen stolpern wir über Gebetsmatten, auf denen Muslims ihr Haupt gen
Mekka neigen. Trotzdem scheint alles einer gewissen Ordnung zu folgen -
jedenfalls sehen wir niemanden, der die Schilder ignoriert, die es
verbieten, im Garten Blumen zu pflücken oder in den Hof zu pinkeln - und
irgendwann haben auch wir begriffen, dass man jede Leistung zuerst an
der Kasse bezahlen muss und sich dann zur Untersuchung anstellen kann.
Die Ultraschalluntersuchung zieht sich lange hin - Tanja kann sich wegen
der Schmerzen nicht in der gewünschten Position auf die Liege legen, und
immer wieder fällt der Strom aus -, und auch im Labor ist Geduld
angesagt: Die sehr bemühten Laboranten tun sich schwer, in einem weißen
Arm eine Vene zu finden, im Durcheinander auf dem Tisch ist auch nicht
immer gleich das richtige Röhrchen zur Hand, und im Eifer des Gemetzels
wird auf dem Befundbogen Tanjas Name falsch geschrieben und das
Geburtsdatum verdreht. Immer wieder werden wir mit der Befundmitteilung
vertröstet, aber immerhin gibt uns die Wartezeit die Möglichkeit, die
vielen Plakate an den Wänden zu studieren, und uns darüber zu
informieren, dass man Durchfallerkrankungen verhindern kann, indem man
zum Scheißen eine Latrine benutzt, dass man seinen Kindern nicht
erlauben sollte, mit Ziegenkot zu spielen, und dass Malaria durch
Moskitos übertragen wird.
Leider helfen die Pillen aus der Krankenhausapotheke gar nichts, und so
kriechen wir am Nachmittag zurück zur Entbindungsstation und kratzen an
der Türe zu Dr. Jules Sprechzimmer. Der ist jetzt deutlich gesprächiger:
„Ich hab’s ja gleich gesagt“, wettert er, „akute Erkrankungen erfordern
akute Maßnahmen.“ Er erläutert ausführlich die Prinzipien einer
zeitgemäßen Diagnostik und Therapie, füllt wieder Behandlungspläne aus
und ruft die Stationsschwester. Stationäre Aufnahme. Unser Widerstand
ist gebrochen.
In Afrika begreift sich die Krankenschwester als medizinische
Hilfskraft, Patienten zu waschen oder mit Nahrung zu versorgen zählt
aber nicht zu ihrem Aufgabengebiet, und so ist der Kranke auf die Hilfe
von Angehörigen angewiesen. Auf dem Markt besorgen die dann
Lebensmittel, bereiten sie auf offenen Feuern vor dem Krankenhaus zu,
füttern die Kranken bei Bedarf und schlafen im Freien, oder wie hier,
auf mitgebrachten Matten oder Matratzen in den Gängen oder unter den
Betten ihrer Schutzbefohlenen. Darauf bin ich nicht vorbereitet:. Ich
habe ja noch nicht einmal eine Matratze dabei. Aber allein will ich
Tanja hier nicht zurücklassen.
Die Stationsschwester lächelt verständnisvoll. Sie weist uns ein
Privatzimmer zu, und darin stehen zwei Betten und ein Tisch, und es gibt
sogar ein Bad mit funktionsfähiger Toilette und einer Dusche mit heißem
Wasser. Hier sind wir besser untergebracht als im besten Hotel der
Stadt!
Nach einigen Versuchen gelingt es mir, das Kopfteil des Krankenbetts so
einzurichten, dass Tanja einigermaßen schmerzfrei liegen kann, und die
Krankenschwester hat nichts dagegen, dass ich ihr nach dem ersten
Fehlversuch das Besteck aus der Hand nehme und die Infusionsnadel selber
lege. Puls und Blutdruck bleiben stabil und endlich lassen auch die
Schmerzen etwas nach. Entspannung. Tanja schläft sogar ein bisschen.
Doch dann das Fieber. Dr. Jules wird alarmiert und stellt die Diagnose
telefonisch: Malaria! Wäre jetzt nur Dr. Ngog, der Naturheiler, zur
Stelle. Der hätte mehr Ideen. Mehrere Dutzend verschiedene, mit Fieber
einhergehende Krankheiten unterscheiden die Naturheilkundler hier, und
entsprechend vielfältig ist die Therapie. Doch Dr. Ngog macht keine
Hausbesuche: „Die Ahnen wohnen hier“, sagt er, „und nur hier, nur in
diesem Wald finde ich meine Kräuter. Ein Heiler, der in die Stadt geht“,
ergänzt er kopfschüttelnd, „dem geht’s doch nur ums schnelle Geld. Eine
gute Medizin kann das nicht sein.“
Das Geld wär’s ja gar nicht. Eine ordentliche Behandlung hätten wir aber
schon ganz gerne. Eine Malariatherapie auf Verdacht? Dr. Jules hat ja
recht: Malaria ist eine schwerwiegende Erkrankung und kann unbehandelt
innerhalb kurzer Zeit zum Tode führen. Aber ist denn jedes Fieber in den
Tropen gleich Malaria? Lieber warten bis das Labor wieder aufmacht? Oder
ist es dann vielleicht zu spät? Tanja schluckt die bitteren Pillen.
Am Morgen geht es etwas besser, an eine Entlassung ist aber noch nicht
zu denken. Wieder wird Blut genommen und noch einmal eine
Ultraschalluntersuchung durchgeführt, es finden sich aber keine
auffälligen Befunde. Noch eine Nacht im Krankenhaus, dann kann Tanja
wieder aufrecht gehen. Jetzt reicht’s, wir wollen weiter. Dr. Jules ist
außer sich: „Wann eine Behandlung beendet ist“, schimpft er, „bestimmt
immer noch der Arzt.“ Er wedelt mit dem Laborblatt. „Da sehen Sie:
Massenhaft Pilze im Darm!“
Gastritis? Malaria? Darmmykose? Wir wissen es nicht. Und Dr. Ngog, dem
Naturheiler, wäre das sowieso egal. Er interessiert sich nicht für
Mikroben. Ihm geht es um die wahren Ursachen für eine Krankheit. Hat
Tanja vielleicht ein heiliges Insekt getötet? Einen von einem Talisman
geschützten Bereich betreten? Oder gar Sex mit einem Angehörigen einer
höheren Schicht gehabt? Letzteres, denken wir, können wir ausschließen.
Aber haben wir vielleicht sonst ein Tabu gebrochen?
Was wissen wir schon von Afrika…